Am 29. Dezember 2023 erlebten zwei Reiterinnen, Anika Haas und Marion Mutz, eine beunruhigende Begegnung mit einem Wolf im Wald bei Ulm-Greifenstein im Lahn-Dill-Kreis. Während sie mit ihren Pferden und zwei Hunden unterwegs waren, wurde ein Wolf aufmerksam und folgte ihnen für etwa 20 Minuten. Trotz ihrer Versuche, die Begegnung zu beenden – sie riefen laut und klatschten – blieb der Wolf in ihrer Nähe. Das Hessische Wolfszentrum bestätigte anhand von Videoaufnahmen, dass es sich eindeutig um einen Wolf handelte.
Greifenstein liegt in einem von sechs Wolfsterritorien in Hessen, wo mindestens ein Wolf nachgewiesen wurde. Intensivere Begegnungen dieser Art sind selten, dennoch erlebten die Reiterinnen während des Vorfalls Angst und Hilflosigkeit. Das Wolfszentrum erklärte, dass der Wolf kein verhaltensauffälliges Verhalten zeigte und sein Verhalten als „wolfstypisch“ eingestuft wurde. Wölfe erkennen oft Menschen auf Pferden nicht als solche, was in solchen Begegnungen zu Missverständnissen führen kann.
Angst und Unsicherheit nach der Begegnung
Die Schilderungen der Reiterinnen hinterlassen einen bleibenden Eindruck. Während Anika Haas seit diesem Vorfall den Wald meidet, wagt Marion Mutz es nur noch, mit Pfefferspray in die Natur zu gehen. Moritz Frey vom Wolfszentrum gab Ratschläge für den Umgang mit solchen Begegnungen: laut rufen, sich langsam zurückziehen und dem Wolf zugewandt bleiben, um die Situation zu deeskalieren.
In der Region um Greifenstein gab es in letzter Zeit einen Anstieg an Rissfunden, darunter das eines Damhirsches. Seit der Wiederbesiedelung durch Wölfe in Hessen, die 2011 begann, ist das Thema Wolf und Mensch ein kontroverses Diskussionsfeld. 2023 wurde die Zuständigkeit im Umgang mit Wölfen von der Naturschutzverwaltung zur Jagdbehörde verlagert, was zusätzliche Komplexität in den Umgang mit den Tieren bringt.
Wölfe in der Kulturlandschaft
Wölfe in Kulturlandschaften gelten nicht als gefährlicher als ihre Artgenossen in abgelegenen Gebieten. Vergleichbare Wolfsgebiete in Ländern wie Italien und Polen zeigen, dass der Kontakt mit Menschen weitgehend friedlich verläuft. Laut einer Studie des Norwegischen Instituts für Naturforschung sind Wolfsangriffe auf Menschen äußerst selten. Hauptursachen für solche Vorfälle sind Tollwut, Provokation und Futterkonditionierung, wobei Tollwut in Deutschland seit 2008 ausgerottet ist.
Futterkonditionierung, bei der Wölfe menschliche Nahrungsquellen verbinden, kann das Verhalten der Tiere beeinflussen. Dennoch gewöhnen sich Wölfe an menschliche Präsenz, ohne notwendigerweise aggressiv zu werden. Insbesondere Jungwölfe könnten aus Neugier weniger scheu gegenüber Menschen sein, zeigen jedoch in der Regel keine bedrohlichen Verhaltensweisen.
Die Rückkehr der Wölfe nach Deutschland
In Deutschland war der Wolf über 150 Jahre lang ausgerottet, bevor die ersten Wolfswelpen 2000 in der sächsischen Oberlausitz in Freiheit geboren wurden. Die Population hat sich seither stetig erhöht, mit aktuell 209 Wolfsrudeln, 46 Paaren und 19 sesshaften Einzeltiere (Stand November 2024). Dieser Anstieg um 3,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr markiert einen Erfolgsweg für den Aufbau einer stabilen Wolfspopulation, obwohl das Wachstum in den letzten Jahren stark verlangsamt ist.
Wölfe benötigen keine unberührte Wildnis, sondern leben dort, wo sie Nahrung finden und der Mensch sie toleriert. In Deutschland gibt es geeignete Lebensräume für Wölfe in nahezu allen Bundesländern, mit Ausnahme von Hamburg, Berlin und Bremen. Dennoch müssen sie sich ihren Raum in einer stark strukturierten Landschaft behutsam erobern.
Die Diskussion um Wölfe wirft auch Fragen auf, wie das Zusammenleben zwischen Mensch und Tier in Zukunft gestaltet werden kann, um sowohl die Ängste der Bevölkerung zu adressieren als auch den Schutz dieser faszinierenden Tiere zu gewährleisten. Während die Sorgen der Reiterinnen deutlich werden, ist es wichtig, den Schutz des Wolfes und die Erfahrungen von all jenen, die in Wölfgebieten leben, nicht aus den Augen zu verlieren.