Die Istanbuler Staatsanwaltschaft hat Anklage gegen 819 Personen erhoben, die an nicht genehmigten Demonstrationen teilgenommen haben. Von diesen befinden sich 278 in Untersuchungshaft. Einige der Angeklagten könnten Haftstrafen von bis zu fünf Jahren drohen, in einem bestimmten Fall sogar bis zu neun Jahren. Diese rechtlichen Schritte stehen im Kontext intensiver Proteste, die nach der Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu am 19. März ausbrachen. Die Festnahme war die größte Welle regierungskritischer Proteste in der Türkei seit Jahren.
İmamoğlu, der wegen Korruptions- und Terrorvorwürfen festgenommen wurde, gilt als einer der Hauptverlierer dieser politischen Repression. Nach seiner Festnahme ernannte die CHP ihn zum Präsidentschaftskandidaten. Die Opposition sieht in der Festnahme einen Versuch der Regierung, einen bedeutenden politischen Rivalen zu beseitigen. Der Istanbuler Gouverneur hatte zunächst die Demonstrationen untersagt, doch seit Ende März sind diese wieder erlaubt. Am Dienstag kamen im Stadtteil Kadiköy mehrere Hundert Menschen zu einem Protest zusammen.
Repressionen gegen oppositionelle Kräfte
Im Rahmen dieser Protestwelle sind bereits rund 2.000 Menschen festgenommen worden. Von diesen befinden sich 260 in Untersuchungshaft. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft fordert bis zu drei Jahre Haft für 74 der Festgenommenen. Wiederholt werden aufgrund der Proteste Vorwürfe gegen die Sicherheitskräfte laut, die teilweise brutal gegen friedliche Demonstranten vorgehen. Der Journalist Deniz Yücel hat die Situation als Beginn einer neuen Repressionswelle beschrieben.
Die Festnahme von İmamoğlu wird oft als Teil eines größeren Plans betrachtet, die oppositionelle CHP zu schwächen und deren Führungspersönlichkeiten wie İmamoğlu, die in Umfragen vor Präsident Erdoğan liegen, zu eliminieren. Vor seinem Festnahme erlebte die Türkei eine wachsende Repression gegenüber politischen Gegnern und Aktivisten. Bereits im Februar wurden in zehn Städten, darunter Istanbul, 52 Person durch das Erdoğan-Regime verhaftet. Diese Repression betrifft Politiker, Künstler und Journalisten, die oft progressive Parteien unterstützen.
Kritik und internationale Reaktionen
Diverse internationale Politiker und Organisationen äußern sich besorgt über die Entwicklungen in der Türkei. So fordert der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Freilassung von Selahattin Demirtaş, der seit 2016 inhaftiert ist. Die EU-Kommission, die ihre Mitgliedschaftsverhandlungen mit der Türkei derzeit aussetzt, hat bislang keine Maßnahmen in Bezug auf İmamoğlu ergriffen. Die geopolitische Rolle der Türkei wird von Erdoğan oft genutzt, um gegenüber europäischen Staaten Verhandlungsdruck auszuüben.
Die CHP hat zudem eine Unterschriftenkampagne gestartet, die sich für die Freilassung zahlreicher inhaftierter Oppositionspolitiker einsetzt und vorgezogene Neuwahlen fordert. Während der protestierenden Opposition die Repressionen vorgeworfen werden, ist die Bevölkerung zunehmend besorgt über die Rückschritte für die Demokratie und die Grundrechte in der Türkei. Trotz der Repressalien setzen die oppositionellen Kräfte ihren Kampf für Freiheit und Demokratie unermüdlich fort.